top of page
Writer's pictureJennifer Nausch

Der innere Mauerfall

Was hat Yoga mit dem 9. November, dem Tag des Mauerfalls, und mit der

Wiedervereinigung der BRD und der DDR zu tun?





Ich kann es nicht greifen, aber eindeutig fühlen. Alle Autos aus dem Gegenverkehr zwinkern uns mit Lichthupe zu. So etwas habe ich noch nie gesehen.


Ein strahlendes Gesicht nach dem anderen passiert uns. Unzählige lächelnde Münder hinter Windschutzscheiben anderer Autos und winkende Hände von Fußgängern rücken immer näher und ziehen dann vorüber.


Was ist hier los?

Auch wenn ich es nicht verstehe, erfüllt es mich mit Freude.

 

Es bleibt mir lange ein Rätsel, worüber die Menschen sich freuen. Das “Warum” und “Worüber” spielen in diesem Moment für mich allerdings auch nicht die größte Rolle.

Für mich steht im Vordergrund, wie viele neue liebe Menschen ich auf einmal um mich habe, alles Bekannte und Freunde. Zumindest fühlt es sich so an…


Es scheint eine einzige große Familienfeier zu sein, während ich auf der Rückbank des Autos sitze und mit meinen Eltern Richtung Nordosten nach Mecklenburg-Vorpommern fahre.


Das tun wir zwar schon seit Jahren, aber dieses Mal ist es anders.


Mit nicht einmal fünf Jahren konnte ich die politische Situation zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik noch nicht verstehen.

Was verstand ich von Regimen und politischen Gesinnungen, von Gesetzen, Verordnungen und Strafen, von Trennung und Mauerfall…!? Nichts.


Heute würde ich sagen: Dass zwei Teile desselben Landes und damit viele Menschen, die zusammengehören, Jahrzehnte lang durch Zäune und Mauern voneinander getrennt wurden, war vor allem möglich wegen der Zäune und Mauern in den Köpfen jener Menschen, welche diese Spaltung herbeigeführt und aufrecht erhalten haben.


Zu begreife, welches Machtstreben und welche Interessen hinter einem heißen Krieg stehen und hinter dem Kalten Krieg standen, ist schwierig für viele Menschen, erst recht für ein Kind. Die Freude der Menschen bei der Wende über ihre zurückgewonnene Freiheit und Verbindung zu geliebten Menschen war hingegen für Groß und Klein gleichermaßen spürbar.


Kinder können Politik vielleicht nicht verstehen, aber Einheit fühlen sie. 


Obwohl die Wende und Wiedervereinigung nicht bedeuteten, dass es fortan keine Probleme gegeben hätte, sondern der Mauerfall gar neue Herausforderungen und Diskrepanzen zwischen den Bundesländern und Menschen mit sich brachten, war es doch so, dass damit die gröbste, für die Bevölkerung am deutlichsten spürbare Trennung aufgehoben wurde.


Und hier berühren sich meine Erfahrung mit der Wiedervereinigung und Yoga mit seiner Philosophie.


Wenn wir das Wort Yoga betrachten, bemerken wir schnell eine Übereinstimmung.

Es stammt vom Sanskritwort yuj ab. Das bedeutet so viel wie Vereinigung oder Einheit.

Dabei geht es darum, mithilfe von yogischen Körperhaltungen (Asanas), Atemübungen (Pranayama), Mantras, yogischen Energiesiegeln (Mudras) und Meditation die Verbindung und das Einssein der von uns als getrennt wahrgenommenen Schichten wie z. B. den physischen Körper, den Energiekörper, den Geist oder das reine Bewusstsein sowie psychischen Anteile in uns selbst zu erkennen und diese in Einklang miteinander zu bringen. Anders ausgedrückt: Das Gefühl, die innere Dualität (auch Zweiheit bzw. “Getrenntheit”) und damit auch das “Abgetrenntsein” von allem uns Umgebenden aufzulösen, kommt einem inneren Mauerfall gleich. Und um uns innerlich als Eins und damit auch in tiefer Verbindung und im Einssein mit allem uns Umgebenden zu verstehen und wahrzunehmen, braucht es solch eine innere Wiedervereinigung, die stattfindet, wenn wir - ähnlich wie bereits oben benannt - den physischen und energetischen Körper, Geist (Verstand und Gefühle) und Seele in Einklang miteinander bringen.

Durch den dadurch entstehenden, frei werdenden Energiefluss bestehen dann keine steinernen, uns innerlich und nach außen hin abspaltenden "Mauern" mehr und wir fühlen uns...


verbundener


freier


gelassener


friedlicher

... … …


Einen weiteren Aspekt zeigt mir meine Kindheitserfahrung mit der Wende.

Kinder sind zwar noch nicht so reif und mündig wie Erwachsene, und damit noch leichter beeinflussbar oder manipulierbar.

Doch ihr Blick ist meist unvoreingenommener und offener.

Ihre Köpfe sind in der Regel noch nicht mit so vielen Konzepten und Schubladen oder einschränkenden "Zäunen und Mauern" gefüllt. 

So waren für mich als Kleine die Menschen und Umgebungen auf beiden Seiten der Mauer bzw. Grenze gleich.

Bis auf die sich scheinbar endlos hinauszögernden, langweiligen Pausen immer irgendwo in der Mitte der Fahrt - die Grenzkontrollen - und die jedes Mal verwunderlich große Freude der Kinder aus der Familie, denen wir Kaugummis, Chips und Salzstangen mitbrachten, fiel mir nichts Komisches auf. 


Unter anderem ist dieser ungetrübte  und unvoreingenommene Blick auf das Wesentliche und Verbindende etwas, das wir beim Yoga erlernen und üben. Um das hinter allen Konflikten sich verbergen wollende Wahre und Vereinende erkennen und leben zu können. Um nicht vorzeitig zu urteilen und zu verurteilen, um nachzufragen und zu versuchen, uns in die Position der Anderen hineinzuversetzen, selbst dann - oder insbesondere dann - wenn es unangenehm wird, wenn die Meinungen und Sichtweisen sehr weit auseinanderdriften.


Ich nehme den Tag des Mauerfalls, der sich 2024 zum 35. Male jährt, zum Anlass, mir selbst und Dir als Leser und Leserin die Frage zu stellen:


Was bedeutet der Mauerfall für mich persönlich?


Wo fängt Einheit und wo fängt Frieden für mich an?


Nehme ich Schubladen und Mauern in meinem Denken wahr? Sind diese mir möglicherweise dienlich? Und ab wann fangen sie an , hinderlich zu werden?


Gibt es eine innere Mauer in mir, die anfangen möchte zu bröckeln und zu fallen?


Wo kann ich vielleicht in meinem Denken, Fühlen und Sein mehr Raum und Weite für verschiedene Sichtweisen und Gefühle schaffen?


Namaste


Jennifer


0 comments

Recent Posts

See All

Comments


bottom of page